Sonntag, 8. Juli 2012

10.1.Ich brauche keine Schminke mehr an Halloween

Heute war der Reformationstag. Zur Feier des Tages trage ich Clownsschminke.
Das klingt unüblich, hat jedoch die einfache Erklärung, dass durch den aus Amerika importierte Feiertag Halloween, der Reformationstag etwas in Vergessenheit gerät und sich daher die jährliche Debatte um unseren Feiertag auftut.
Ich verstehe diese Debatte nicht, da der Grund dieses Umstands doch klar auf der Hand liegt: Wir sind natürlich froh darüber, dass Luther uns aus der Abhängigkeit und der Macht der Kirche zu einem Großteil durch seine Thesen befreit hat, dennoch ist es doch viel cooler, sich als mehr oder weniger gruselige Gestalt verkleiden zu dürfen ohne schief angeguckt zu werden.
Deshalb gingen Nick, Karl und ich am Abend des Reformationstages mit Clownsgesichtern in unseren üblichen Markt und kauften uns eine nette Flasche blutroten Wein. Ich war innerlich noch immer äußerst wütend über die Zuverlässigkeit und Prinzipien der Menschen. Ich versuchte mich damit abzufinden allen Menschen fremd zu bleiben.
Noch in dieser Geschichte würde sich in mir jedoch eine neue Erkenntnis auftun.
Als wir uns im Markt befanden wurden wir von Einigen dennoch schief angeguckt. Manch sehr erwachsene Leute, empfanden es als lächerlich und kindisch sich zu verkleiden. Ich wollte mich nicht beeindrucken lassen von deren Haltung, ertappte mich dennoch bei einem leichten Schamgefühl. Wir nutzten einfach die Anonymität gebenden Clownsgesichter, um den Mädchen, denen wir begegneten, etwas Flottes entgegenzusetzen.
Eines der Mädchen gefiel mir besonders. Sie hatte blondes Haar und ein schmales Gesicht mit hübschen Lippen.
Zu meiner Überraschung traf ich das Mädchen vor dem Markt wieder, in den Armen eines ungesund dünn wirkenden Jungen mit eingefallenem Gesicht.
Die Jacke und Hose die jeweils dreimal so groß gewesen sein mussten wie ihr Träger, waren eindeutig der Gangster-Hip-Hop Szene zuzuordnen. Seine zwei ähnlich gekleideten Kollegen standen mit bösen Blicken neben ihm. 
Dieses vollkommene Bild eines Klischees war jedoch nicht der Grund, weshalb es schwer viel mir mein Lachen zu verkneifen. Es war der Bruch mit dem Klischee durch den Frontmann der Gangstergang.
Dieser trug neben dem Mädchen in seinem Arm und seinem fiesen Gesichtsausdruck noch eine Brille auf der Nase.
Ich möchte mich hier nicht gegen Brillenträger in Hip-Hop Kluft aussprechen.
Ich finde es durchaus interessant und Stilvoll. Wenn man jedoch so erscheinen möchte, als sei man der am meisten gefährliche Mensch auf der Welt, sollte man keine Sehschwäche haben.
"Digga, was macht ihr sie an Digga!" ist der geistreiche Satz, welcher dem Gangsterboss zum Anfang unseres Gegenübertretens über die Lippen kam und den ich hier rezitiert habe. Meine Interpretation dieses Zitats beginnt mit dem Aufzeigen der verwendeten Stilmittel. Mit der direkten Ansprache durch das Wort "Digga", welches hier zweimal verwendet wird und daher eine besondere Akzentuierung erhält, ist wohl auf eine äußere Person oder dem Leser zurückzuführen. In meiner damaligen Situation höchstwahrscheinlich auf meine beiden Freunde und mich. Das Wort "ihr" verdeutlicht meine These der direkten Ansprache. Mit "sie" ist eine weitere feminine Person gemeint, wahrscheinlich das Mädchen, das ich zuvor so selbstsicher angemacht habe. Der Rest des Satzes erklärt sich von da aus selbst.
Mir war nicht nach Streiterei zu Mute, konnte mir eine kleine nette Anspielung aber auch nicht verkeifen. 
Wenn ich einen dieser Gangstertypen mit teuren Markenhosen und Jacken vor mir sehe, wünsche ich mir in den Sechzigern oder Siebzigern zu leben, doch ich denke man muss wohl aus der Generation machen was man kann.
"Kein Stress ich wusste nicht das sie dein Mädchen ist, Sido." Sido, genau so wie der Rest von "Aggro Berlin", ist ein deutscher Rapper, welchen ich in früheren naiven Tagen meines Lebens oft gehört habe. Sido trug genau wie der Gangsterboss, welcher mir gegenüber stand, eine Brille. Ich fand es war eine nette, treffende Anspielung, die er mir anscheinend übel nahm. "Was Sido? Nenn mich nicht nochmal Sido, Digga!", entgegnete mir Sido für Arme mit verärgerter Stimme. "Tut mir leid, Sido", rutschte mir heraus. Nick drängte bereits zu gehen. Er hatte den aufkommenden Ärger bemerkt. Wenn man jemanden von diesen Typen auch nur den geringsten Grund gibt sich gegen einen aufzulehnen, kann man davon ausgehen, dass er eben dies tut.
Ich wandte mich von ihm ab und ging mit dem Wein in meiner Obhut. "Du Hurensohn", schrie uns einer der Gangster nach. Es war zu spät. Der Grund war gegeben und die Tat darauf würde nicht lange auf sich warten. Wir gingen einfach weiter. Einer der Gangstertypen folgte uns bereits und machte weiterhin weniger originelle Anspielungen auf unsere Mütter und andere Verwandte. Er schien immer wütender zu werden, schaukelte sich künstlich hoch und hatte ganz offensichtlich ein ernstzunehmendes Aufmerksamkeitsdefizit. Möglicherweise wurde ihm früher die Brust verweigert.
Doch dann sagte er plötzlich etwas, dass ich nicht mit meinem Ego vereinbaren konnte.
"Warum verpisst ihr euch jetzt, habt ihr schiss?!" Ich hatte keine Lust mich weiter mit dem Typen zu beschäftigen, aber er sollte nicht denken, dass ich aus Furcht von ihm weggehe. Also blieb ich stehen. 
Mit der Weinflasche in der Hand drehte ich mich ihm entgegen, schaute nach oben und wollte ihm gerade entgegnen, dass ich keine Lust habe mich weiter mit ihm auseinander zu setzen und ich nicht wüsste, was ich ihm noch zu sagen hätte, als mir seine eher spärliche Antwort bereits entgegen flog. Wieder einmal drehte ich mich um die eigene Achse und ging zu Boden. Ich hatte ein übles Deja Vu. Nach kurzer Zeit am Boden fiel mir mein wunderbarer 19. Geburtstag ein, an dem meine Freundin mit diesem Bonzentyp durchgebrannt war, nachdem mir dieser eine ähnlich starke Kraft gegen den Kopf geschleudert hatte. Mit mir ging auch die Weinflasche zu Boden und eine hellrote Flüssigkeit bildete eine Lache um mich herum, sodass es aussah als wäre ich Opfer eines brutalen Gewaltverbrechens geworden.
Ich stand jedoch sofort wieder auf und war bereit den begonnenen Faustkampf zu Ende zu bringen. 
Der Gangster war jedoch bereits mehr als fünfzehn Meter von mir entfernt und ging schnellen Schrittes in Richtung des Gangsterbosses. Nick und Karl kamen zu mir zurück und Nick schrie dem Gangster etwas hinterher.
Karl fragte ob alles in Ordnung sei und ich nickte.
Wir folgten Nick der wütend hinter der Gangstergang her ging, die mittlerweile schon mindestens 100 Meter von uns entfernt war. Anfangs dachte ich, dass Nicks Wahnsinn aus Schreien und gegen Schilder und Fahrräder treten, durch das kurz aufkochende Adrenalin hervorgerufen wurde, doch er hörte nicht mehr auf.
So wurde mir, nachdem ich mich kurz über Nicks Verhalten amüsiert hatte, schnell bewusst, dass es ihm todernst war.
"Nick, was ist los? Beruhig dich doch mal!", sagte ich und versuchte dabei möglichst locker und ruhig zu wirken.
"Scheiße", schrie er und schlug zur Unterstreichung seiner Wut gegen ein Plakat, auf dem unser Bundestagsabgeordneter Marcus Weinberg abgebildet war.
Er ließ sich auf die Straße fallen, völlig außer Atem und schon etwas angetrunken von einigen Bieren die er zuvor getrunken hatte. "Ich war nicht da gewesen", sagte er plötzlich ganz ruhig, auf den Boden starrend.
Es folgte eine kurze Stille. "Und jetzt war ich wieder nicht da!"
Irgendetwas muss ihn an diese Situation erinnert haben, muss ihn wutentbrannt haben als er daran erinnert wurde, etwas das um einiges Schlimmer war als der Schlag der mich traf. Etwas, das ihn geprägt hatte. Hilflosigkeit und längst vergessener Selbsthass strahlte er aus und plötzlich sah ich mich in ihm. 
Probleme, Umstände die man nicht mehr ändern konnte und sich dafür hasst.
Noch nie habe ich ihn oder überhaupt niemanden so menschlich, verletzlich und ohne Fassade gesehen und mir wurde klar, dass ich ihm verzeihen würde. Ich hatte vollsten Respekt vor ihm.
Er braucht Leute die ihm zuhören, mit ihm lachen, also erzählt er meine Geschichte über dieses Mädchen.
Er wird sich selbst helfen, dachte ich und ich ließ ihn wütend sein.
Dann gingen wir heim, ohne Wein.

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